Jochen Schliemann hat ein alternatives Reise-Buch geschrieben. Anders als all die harmoniesüchtigen Berichte und Instagram-Profile. Mit viel Herz und Hirn.
„Der Gegenentwurf zur Inszenierung des Reisens.“ – Manuel Möglich („Wild Germany“, ZDF Neo, Y-Kollektiv“)
Spontan bricht Tim Ross mit seinem Leben und beginnt gleich zwei Reisen: eine um die Welt, eine in sein Unterbewusstsein. Unter anderem Ost- und West-Afrika, Süd- und Nord-Amerika sowie Ost- und Süd-Ost-Asien sind die Schauplätze einer Suche nach Antworten auf grundlegende Fragen des Lebens, vor allem für die Generation zwischen 25 und 45. Tim Ross begibt sich auf eine Reise, auf der die Grenzen zwischen malerisch geschilderter Realität und wilder Phantasie immer weiter verfließen. Wird Tim eine Formel für das Glück finden? Wird er seine Konflikte lösen? Und welches Geheimnis trägt er mit sich herum? Was ist „P“?
„Traurig und irritierend, schön und sehr, sehr lustig.“ André Boße (Unispiegel, SPON, Musikexpress)
Hier eine kleine Textprobe aus dem „Japan“-Kapitel:
GION
Unzählige Abende schlenderte Tim zudem durch Gion, das Geisha-Viertel Kyotos. Er bekam nie genug davon zu überlegen, was hinter den holzverkleideten Fenstern, im warmen Licht der kleinen, miteinander verwachsenen Häuser passierte, von denen keines höher war als zwei flache Stockwerke. Jedes erzählte eine eigene Geschichte, zusammen waren sie eins. Wer lebte dort? Fragte er sich. In diesem Stück lebender Geschichte. Wie lebt man dort? In diesen kleinen, unmöglich nachzubauenden Enklaven einer Gesellschaft, die er nie ganz verstehen würde.
Eines Abends – er stand in einer der schmalen Seitengassen des nur durch die kleinen Lampen an den Hauseingängen beleuchteten Gions – hörte er ein metallenes Schiebeschloss irgendwo hinter sich aufgehen. Tim wich zurück, stellte sich mit den Rücken an eine Hauswand in derselben vorauseilenden Rücksicht, die er hier in Japan gelernt hatte. Eine Tür, etwa 15 Meter von ihm entfernt am Ende der Gasse, öffnete sich kurz und heraus huschte eine Geisha.
Während sie sich umdrehte, um die Tür zu schließen, stand Tim da wie gelähmt. Er spürte seinen automatisierten Kamerareflex. Seine Hand griff wie ferngesteuert zu dem Apparat, den er stets bei sich hatte. Das war genau die Situation, auf die jeder Fremde in Gion jeden Abend lauerte. Wie oft hatte Tim in weiter Entfernung die Blitzlicht-Gewitter gesehen von Franzosen, Deutschen, Amerikanern, Chinesen oder allen anderen, die eine Geisha erspäht hatten und sie nun mit ihrem penetranten Geknipse terrorisierten und auf hunderte Meter hinweg ankündigten.
Nun drehte sie sich weg von der Tür und machte sich auf den Weg. Sie ging auf ihn zu. Wunderbar gekleidet, mit ihrem mysteriösen, weißen Gesicht, kompliziert hochgesteckten Haaren, den charakteristischen roten Lippen, einer kleinen Tasche auf dem Arm, in einer perfekt beleuchteten Seitengasse, zwischen malerischen kleinen, spärlich beleuchteten Holzhäusern. Weit und breit kein Mensch in Sicht. Sie ging auf Tim zu.
Meist während oder kurz nach der Dämmerung eilten die bleichgeschminkten, wunderbar zurechtgemachten Damen in kleinen, schnellen Schritten zu ihren Terminen. Und die Meute hinterher. Ansprechen, gaffen, blenden. Für den einen Moment, den die Touristen zuhause in ihren Wohnzimmern allen zeigen wollten. Von etwas echtem, dass es nur hier gab. Die Geishas schwiegen und tippelten stoisch, mit ihrem jahrelang geschulten, starren Blick, ihres Weges.
Er konnte nicht. Er ließ die Kamera wo sie war. Und stand mit dem Rücken zur Häuserwand und schaute nach unten. Voller Ehrfurcht machte er Platz für eine Form der Schönheit, der Grazie, der Haltung und der schlichten Perfektion einer Version des menschlichen Seins. Ein rund zwei Meter großer Mitteleuropäer wich einer im Vergleich zu ihm zierlichen asiatischen Frau – einem Kunstwerk – aus.
Aus den Augenwinkeln sah er sie kurz an, als das Tapsen ihrer Holz-Sandalen näher kam. Und ganz kurz folgten auch ihre Augäpfel dem, was sie da passierte. Und, es mag Einbildung gewesen sein, aber ganz kurz gingen ihre Mundwinkel nach oben und die Lieder über ihren dunklen Pupillen schlossen sich langsamer als sonst.
Sie bog um eine Ecke nach rechts ab und verschwand. Nach ein paar Sekunden sah Tim über den Dächern die Blitze, das lauter werdende Gerede und Gestaune, das sich dann nach und nach von ihm Entfernte. Er blieb noch eine ganze Weile stehen in der einsamen Gasse. Irgendwann schaute ein wirrer Europäer, seine Kamera in der Hand wie ein Maschinengewehr kurz um die Ecke. Mit weit aufgerissenen Augen suchte er die Straße ab und sah nur Tim. Der Europäer verschwand wieder. Tim blieb.
„P – trauriges Reisen ist erschienen bei finebooks und überall bestellbar und erhältlich.